Therapeutisches Boxen und Lanzelot und eine Burg im Nahe-Dill-Kreis

Ich erzähl Euch das mal rückwärts.

Gerade komme ich von draussen aus Schneegestöber und Wäller Wind. Wer weiss jetzt nicht, was das ist? „… und über seinen Höhen pfeift der Wind so kalt, jedoch der kleinste Sonnenschein, dringt tief ins Herz hinein….“?? Na? Wer es weiss, darf er mir schreiben, bekommt ein Bier von hier…..

Auf jeden Fall ist während der Fahrt in der Nasszelle (wieso Zelle??), im Nasskasten, einer der Wasserkanister umgefallen, der undicht ist…. Ihr kennt mich alle sanftmütig, ich kann aber auch ausflippen wegen nix. Naja: das Nix stand im Bad und hat zwei Handtücher gebraucht, die flattern jetzt in Schneewehen.

Letzte Nacht stand ich bei Braunfels, hatte einen Stellplatz am Waldrand gesucht, den man von der Strasse nicht gleich sieht. Es war schon dunkel als ich geparkt hatte. Kein anderer da, perfekt. Gut geschlafen. Dann morgens immer das gleich Chai-Ritual: rumbrummen und mauzen bis ich mich in die Wanderstiefel zwänge und mir 6 Lagen anziehe, um nicht zu erfrieren. Ich geh so mit ihm auf einem geteerten Waldweg ums Eck und ZACK: steht da ein Schloss aufm Hügel. Und was für eins! Wie im Märchen. Schloss Braunfels eben.

Kannte ich nicht. Ihr? Ich les seine Geschichte nach und kann Euch sagen: Fahrt einfach mal irgendwohin in Deutschland, die Historie quillt aus allen Fugen. Ist glaub egal wo. Hier waren wieder Schweden – Schloss kaputt – wieder aufgebaut – Spanier (!) – Ratet: Schloss kaputt – wieder aufgebaut – Franzosen – ….. Es sind mit den Jahrhunderten verschiedene Baustile implementiert worden. Lest es mal nach und vor allem: kommt mal her. Ihr könnt nix falsch machen. Egal wo de ziehst, kommt Geschichte mit Flucht, Krieg, Frieden,  Aufbau, Kunst und Ideenreichtum raus.

Klar bin ich in die Stadt gefahren, Bus neben dem Schloss geparkt und dann kann man durch das Schloss ins Städtchen auf dem Marktplatz gehen über Treppen, Kopfsteinpflaster und durch eine Kulisse von Fachwerkhäuschen. „Hier wohnte der Schreiber des Schlosses“ steht auf einen Haus „zwischen den Toren“.

Ich setze mich in ein Café am Marktplatz und – was denkste – komme ins Gespräch mit einer Dame aus der Umgebung, die gerade vom Orthopäden kommt und sich mit dem Kaffee davon erholt. Als sie weg ist, sitze ich noch mit meiner zwar leeren aber noch warmen Tasse Milchkaffee da und mich durchflutet ein Gefühl von Dankbarkeit. Mir wird fühlbar klar, was für ein Geschenk es ist für meine Seele, das alles sehen, hören und schmecken zu können. Auch die Schmerzen in meinem Knie. Einfach hier auf Erden sein dürfen und atmen, essen, erzählen und zuhören. Ich kann es nicht gut beschreiben, aber es war ein intensives Inmirfluten und Bewusstwerden, was das bedeutet, Mensch sein zu dürfen.

„Achtet auf die Kleinigkeiten“.

Später passiert in Wetzlar noch mal was Ähnliches, auch wieder in einem Café, dort kann man einfach mit Menschen im Warmen in Austausch kommen. Da sitzt eine 88jährige Frau, die ich auf Ende 70 geschätzt hätte, und trinkt einen heissen Tee.

„Können Sie mir bitte kaltes Wasser bringen?“ fragt sie die Bedienung.

„klar. Der Tee wird aber von alleine kalt, in Ihrem Alter hat man doch Zeit, oder?“

„Nein, ich nicht, muss noch zu meiner behinderten Tochter, und abends muss ich früh daheim sein, um mich zu erholen“

Ich bin einmal mehr berührt, wie man sich mit seinen Vorstellungen von Leuten verschätzt. Und das obwohl ich viele solche Geschichte kenne aus der Praxis.

Ich verwickele sie in ein Gespräch:

„Ich hätte sie viel jünger geschätzt! Aber ich habe die Erfahrung in meiner Praxis gemacht, dass gerade Menschen mit Herausforderungen älter werden als die, die kaum Probleme zu bewältigen haben“

Sie holt mich dann ab mit: „Herausforderungen stelle ich mir selber. Ich mache jeden Morgen Gymnastik eine halbe Stunde und dann lerne ich Gedichte auswendig eine Stunde lang“

Staunend frage ich: „Welche lernen Sie gerade?“

„DREIZEHNLINDEN von Friedrich Wilhelm Weber“

Nie gehört, fühle mich sehr ungebildet.

„Das ist ein Epos, handelt vom Leben, Lieben und handelt vom Endkampf der Sachsen und Franken, ist fiktiv, aber man kann in diese Zeit um 1870 eintauchen“ Sie ist ganz fasziniert und bringt mir den Band.

„Können Sie das alles auswendig?“

„Sind 25 Gesänge, da bräuchte ich ab und zu eine Souffleuse. Ab und zu hat sie gesagt….

Könnt Ihr Euch in etwa mein Gesicht vorstellen?

Sie marschiert nachher raus wie Mitte Vierzig und ich bleibe beeindruckt sitzen. DAS ist es, was mich an meinem Beruf fasziniert: Menschen und ihre Geschichte! Und nicht das Behandeln von Diagnosen……

Ach ja: den Tag von gestern haben wir ja noch nicht. Denn das therapeutische Boxen und Lanzelot fehlen …

Ich hatte bei Alex und Sabine übernachtet und seit Tagen das erste Mal geduscht. Nach Kaffeegeklöne über Welt und Gott Boxen im Fight house von Alex, in der Tiefgarage. Das durfte ich schon paar mal mitmachen.

Alex hat als ehemaliger Einzelkämpferausbilder und als Coach viel Erfahrung mit Atmen und Boxen und was macht Verteidigung und lautes Ausatmen Deinen Gefühlen, besonders mit denen, von denen du gar nichts weisst….? Mit dieser Atemtechnik habe ich danach sogar keinen Muskelkater und ich fühle mich wie aufgeräumt.

Ende letzten Jahres hatte ich bei ihm ein Einzeltraining, da kam das ganze Jahr 2021 hoch,  das sowohl persönlich als auch insgesamt heftig war und ich aber immer wieder mit KRONERICHTENUNDWEITERGEHTS unterwegs war. Kennt Ihr das? Bei einer Boxserie „one-two-uppercut“ kam es beim Ausatmen hoch, und immer höher, ich brüllte bei jedem Schlag (nicht auf den Körper, nur auf den Schatten von seinen Handschuhen, es wird niemand verletzt….) immer lauter und dann war sie da: die ganze Welle von weggedrückten Gefühlen aus Wut, Zorn und Enttäuschung. Er hatte es gemerkt und mich immer weiter angefeuert „was immer es ist und wer immer ich bin: lass es raus!!!!“ bis ich total erschöpft in Tränen ausbrach. Dann war es draussen. Leute!!!! Was tragen wir manchmal mit uns rum??!! Das muss ja irgendwo hin, sonst macht es krank. Therapeutisches Boxen eben. Kann ich nur empfehlen.

Und Lanzelot? Ist ein Welsh-Cob-Wallach der schönsten und liebenswertesten Art. Bettina ist seine Besitzerin und ich durfte gestern auf ihm sitzen und durch den Wald reiten,während sie neben mir herlief. Lanzi, wie sie ihn liebevoll nennt, hat genau die Farbe, wie Lea es mir mitgeteilt hat: braun mit schwarzen Füßen. Was hat das mit Lea zu tun und was mit Kroatien? Das erzähl ich Euch nächste Woche. Jetzt fahre ich nach Troisdorf zu Claudia. Sie hat mich zum Pizzaessen eingeladen. Wir kennen uns von Reiten in Flein….