Perfekt oder vollkommen – das ist die Frage

Neues Bewusstsein

Gastbeitrag von Pia Maria Hirsiger, Theologin, www.mystik.art, Dietikon

Der Mensch ist nicht perfekt, deshalb muss man ihn optimieren, perfektionieren. Nur so kann man diese Welt vor dem Untergang bewahren. Mit der Technik von heute scheint endlich möglich, was Gott bisher nicht erreicht hat: Dass der Mensch sich «richtig» verhält. So die Vorstellung des Transhumanismus, die Vorstellung vom perfekten Menschen.

Die aktuelle Situation führt zur Frage, wie es kommt, dass der Mensch trotz Religion und Bildung und gutem Willen vergesslich ist, unberechenbar, eingeschränkt, beschränkt in seinen Einsichten, Kapazitäten und Begabungen; sein Verhalten wird gesteuert von unvorhersehbaren Emotionen und Einfällen und Wünschen, von seinen Prägungen des Unbewussten. Und so produziert er Chaos, Ungleichgewicht, Übernutzung der Ressourcen etc. Er hat kein Mass, keine Übersicht, er kann all das nicht, was die Künstliche Intelligenz, also Computerprogramme mühelos und zuverlässig leisten: perfekt und berechenbar und ordentlich zu funktionieren.

Wir kennen auch die alte Redewendung von der «perfekten Hausfrau», oder wir sagen, der Vertrag ist perfekt, wenn er zu seinem Abschluss gekommen ist. D.h. etwas lässt nichts zu wünschen übrig. So steht es im Duden.

Was wäre unsere Zivilisation ohne diese Perfektion von Maschinen, Computern und Systemen, ja auch von menschlicher Hochleistung durch Training, Anstrengung, Fleiss und Übung? Keine Frage! Doch wo hört die Technik auf und wo beginnt das, was den Menschen zum Menschen macht?

In der deutschen Sprache gibt es noch ein Wort, das scheinbar die gleiche Bedeutung hat. Etwas ist vollkommen. Dieser Film, dieses Gedicht, dieses Bild, dieses Menu oder diese Gartenanlage ist ein vollkommenes Kunstwerk. Wir hören die Arie einer Sängerin an einem ganz bestimmten Abend, so stimmig, so schön, so berührend, dass alle sagen: Das war vollkommen. Oder: Es war göttlich! Auch wenn die Künstlerin über Jahre ihre Technik verbessert, ist das keine Garantie, dass ihre Arie noch ein zweites Mal diese Vollkommenheit erreicht.

Was so machtvoll berührt, dieses «Vollkommene», wurde in allen Kulturen erfahren, ganz besonders im künstlerischen Schaffen. Kunst entsteht durch die Hingabe an die Inspiration. Diese ist ein unverfügbares Ereignis, das dem künstlerischen Menschen geschieht, die Berührung durch eine Kraft, eine Gegenwart, eine Wirkmacht, die als das Heilige, das Vollkommene empfunden wird. Ein Kunstwerk ist der Versuch, dieser Inspiration eine Sprache zu geben, um sie andern Menschen ebenfalls zugänglich zu machen. Kunstwerke sind also immer Medium einer Botschaft, die der Künstler in seinem Geist durch Inspiration «erschaut» hat.

Was würde geschehen, wenn man eine Sängerin mit der künstlichen Intelligenz eines Computers verschmelzen würde, um ihre Arie zu perfektionieren? Jeder Ton in der perfekten Höhe, mit der sorgfältig abgestimmten Lautstärke in der Tonfolge, Atemkraft und Betonung? Man würde die Musik als «seelenlos» empfinden, weil ein solcher Gesang entkoppelt wäre von der lebendig gefühlten Wirklichkeit, die der Komponist in seiner Arie niedergeschrieben hat und die von der Sängerin empfunden und auf ihre einmalige Weise als Gesang zum Ausdruck gebracht wird. Die Arie wäre gesangstechnisch perfekt, würde aber nicht berühren. Etwas in der Art kann man manchmal erleben, wenn ein säkulares Orchester geistliche Werke spielt.

Hochbegabt für Gott

Nun heisst es in unserer Heiligen Schrift, der Mensch sei Bild Gottes, von Gott eigens aus der bereits bestehenden «Erde» geformt und gebildet. Diesem Gebilde haucht Gott seinen Odem ein, übereignet ihm sein eigenes Sein, seine Lebensdynamik: die schöpferische Kraft, das Erkennen und das Lieben. Jeder Mensch ist damit gottfähig, eine einmalige Schöpfung in einem grossen Ganzen. Nie kann ein Mensch zeitlich, räumlich, geschichtlich an der Stelle eines andern stehen und handeln.

Jeder Mensch ist ein Unikat mit einem schöpferischen Ursprungspunkt: Er kann «Ich» sagen, und er kann sagen: «Ich will» oder «Ich will nicht». Ich will sein, oder ich will nicht sein. Ich will sein, wie Gott mich gedacht hat, oder nicht.

Die Schöpfung mit all ihren Dimensionen und Ebenen ist eine Art «vorbereitete Umgebung» (Maria Montessori), die in jeder Hinsicht von Gott spricht und uns deshalb mit Gott, mit seinem Leben, mit seiner Liebe nährt. Es wäre gedacht, dass wir durch die Kommunikation mit Gott, mit den Mitmenschen, mit der ganzen Schöpfung und durch unser Wirken heranwachsen könnten zum vollen Sein als Bild Gottes, als Söhne und Töchter Gottes, von Gottes Art.

Die Heilige Schrift sagt aber auch, dass der Mensch als Bild Gottes durch eine freie Entscheidung auf tragische Weise ent-Art-et ist. Die dreieinige Lebensdynamik Gottes in ihm ist verzerrt und unkenntlich geworden. Durch den Bruch mit Gott fehlt uns die Orientierung, die Weisheit, die Einsicht, die Liebe, die schöpferische Kraft, und das ist der tiefste Grund, warum unsere Welt so ist, wie sie ist. Obwohl seit Abraham der Ruf Gottes an den Menschen durch das Universum tönt und seit zweitausend Jahren die Botschaft von den neuen Möglichkeiten durch die Welt weht, die Christus uns aufgetan hat, ist Gott offensichtlich nicht bei uns angekommen. Warum schafft er das nicht, wenn er doch allmächtig ist?

Freiheit – die Gotteskunst

Gott will im Gegensatz zum Transhumanismus nicht unsere Perfektion, sondern unsere Vollkommenheit. Er übt keine Gewalt aus über uns, sondern will das Unbegreifliche mit uns erreichen: Dass wir als Geschaffene, Gewordene, Gebrochene, mit all der Schädigung, die wir haben, uns in Freiheit entscheiden, das zu werden, was wir sein können: schöpferisch liebende Menschen – sein Bild.

Diese Entscheidung ist nur in Freiheit möglich, sie ist unsere eigentliche Lebensaufgabe und unsere grösstmögliche schöpferische Leistung. Gott nimmt das ganze Leiden der Menschheit auf sich, um uns diese Freiheit bis zum Ende zu ermöglichen.

Die tiefste Sehnsucht des menschlichen «Ich» verlangt nach dem Vollkommenen, dem Göttlichen, und die Erfüllung beginnt mit der Inspiration des göttlichen Geistes. Sobald die Verbindung bewusst hergestellt ist, kann das Leben mit Gottesqualität in uns einströmen und wir erhalten Licht, Einsicht und Kraft, unser Sein und unser Wirken wird immer mehr damit aufgeladen. Wir finden heim in den Sinn der «Heiligen Ordnungen», mit denen Gott die ganze Schöpfung aufgebaut und uns darin eingewoben hat. Wir finden zurück in unsere Würde, priesterlich-königlich mit immer mehr Weisheit, Liebe und schöpferischem Einfallsreichtum zu handeln. Wir werden das rechte Mass in allem finden, ein sicheres Gespür für Gerechtigkeit entwickeln, weise und sportlich, also tapfer im Umgang mit Leiden und Widerwärtigkeiten werden. Auf diesem Weg werden die sieben Wurzeln des Bösen und des Unheils, die unsere Welt zerstören, durch die Hingabe an das neue Leben von innen her transformiert: Hochmut (saligia), Habgier (avaritia), Wollust (luxuria), Zorn (ira), Völlerei (gula), Neid (invidia) und Trägheit (acedia).

Diese Entwicklung zum vollen Menschsein als Bild Gottes ist nur in Freiheit möglich. Nie wird man durch Zwang oder durch Übung oder Programmierung erreichen, dass ein Kind, aus einem innersten schöpferischen Impuls heraus von seinem Spiel aufsteht, zu seiner Mama rennt und sagt: Ich habe dich so gern. Ich habe ein Geschenk für Dich gemacht. Genau das aber möchte Gott: Dass wir seine verschwenderische, charmante, und bis zum Tod gehende Liebe für uns erkennen und glückselig nach ihm rufen: Abba! Ich liebe dich so sehr. Ich habe ein Geschenk für Dich! Und Gott fragt: Was hast Du denn Schönes für mich? Und jeder Mensch würde sagen: Mein Leben. Meine Umkehr. All mein Leiden und Suchen. Meine Reue. Mein Festhalten an dir. Meine Sehnsucht nach Deiner Vollkommenheit in mir.

Dann hat unsere Hochbegabung für Gott, unsere Freiheit, ihre höchste Vollkommenheit erreicht. Dann sind wir Mensch, wie Gott uns gedacht hat.

28. Januar 2023

Bildnachweise:

erste zwei Bilder: Private Fotos von Bernhard Arbogast

Bild mit Blaumeise: https://www.peter-engel-photographie.de/

Bild mit Kind: Unsplash free download

alle anderen: selbst gemacht

1 Kommentar
  1. Gerlinde Creekmur LASTNAME_DUMMY
    Gerlinde Creekmur LASTNAME_DUMMY sagte:

    Viele haben vergessen wer wir sind..
    Der Materialismus hatte uns voll im Griff. Die jetzige Zeitepoche lehrt uns, dass wir ernten was wir säen. Die göttliche Ordnung fehlte, jetzt kommt eine neues Bewusstsein, ein Erkennen, dass wir alle Gottes Kinder sind. 🙏💜

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